Die Frauen der Wolkenraths. Roman by Elke Vesper

Die Frauen der Wolkenraths. Roman by Elke Vesper

Autor:Elke Vesper [Vesper, Elke]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104026466
Herausgeber: Fischer e-books
veröffentlicht: 2012-11-26T00:00:00+00:00


Größere Aufregungen als die Mistel gab es nicht. Manchmal klopften Kranke an die Tür. Die Tante nannte sie »Kunden« oder »Besucher«, nie aber »Patienten«. Dann ging Stella still ihren Beschäftigungen nach, im Haus oder draußen, wobei sie eine majestätische Haltung einnahm, mit aufgerichtetem Kopf und eingezogenem Bauch, so weit es ihr möglich war. Sie teilte der Tante anschließend ihre Beobachtungen mit, wie zum Beispiel, dass sich die Gesichtsfarbe der Männer verändert habe, als sie sie anschauten. Oder dass die Blicke der Männer ganz von allein immer wieder zu ihren Brüsten wanderten und dort hängen blieben, bis sie sich räusperte, ein wenig nur, aber sofort rissen die Männer die Blicke fort, ließen sie durchs Zimmer huschen oder auf den Boden fallen.

Die Frauen reagierten nach Stellas Beobachtungen auf andere Dinge. Eine zeigte sich pikiert, weil Stellas lange Haare offen über ihren Rücken fielen. Da erst fiel Stella auf, dass es der Tante schaden könnte, wenn ihre »Kunden« der Meinung waren, dass bei ihr Haare herumflogen. Von dem Tag an flocht sie ihre Locken zu einem Zopf, was sie bisher stets verweigert hatte, außer beim Reiten. Doch selbst dann hatte sie ihre langen Haare zu einem offenen Schwanz am Hinterkopf zusammengebunden, sodass sie aussah wie das Pferd. Zöpfe hatte sie immer blöde gefunden.

Und dann fand Frau Banduschke sich bei Tante Lysbeth ein, weil sie sich in den Finger geschnitten hatte und die Wunde nicht heilen wollte, sondern nach einer Woche schlimmer denn je eiterte. Stella setzte der etwa vierzigjährigen Frau auf Geheiß der Tante eine Tasse Tee vor, während Lysbeth, nachdem die Tante die Wunde gewaschen hatte, Salbe auftrug und einen Verband anlegte. Frau Banduschke musterte Stellas Taille und ihren Bauch und bemerkte süffisant: »Liebe Frau Lysbeth, Ihre Großnichte scheint bei Ihnen ja viele Leckerbissen zu essen zu bekommen, oder war sie immer schon so ein Pummelchen?« Stella verschüttete fast den Tee, riss sich aber im letzten Augenblick zusammen, nahm ihre majestätische Haltung ein und flötete mit honigsüßester Stimme: »Tantchen und ich haben Kekse gebacken, Sie werden es nicht glauben, aber ich habe mich an einem Tag verdoppelt.« Sie zwinkerte die Kundin an und fügte in gedämpftem Ton hinzu, als verrate sie ein Geheimnis: »Heute Abend trinke ich Tantchens Schlankheitstee, morgen bin ich wieder ein Drittel weniger.«

Frau Banduschke erkundigte sich sofort sehr interessiert nach diesem Tee. Die Tante füllte ihr sogleich eine Tüte Misteltee ab.

Als sie fort war, atmeten alle drei erleichtert aus. »Das ist nochmal gut gegangen«, ächzte die Tante. »Irgendwann musste es ja passieren. Wir sehen anscheinend gar nicht mehr, wie rasant du zunimmst. Lass dich mal anschauen, mein Kind!« Stella stand auf und drehte sich einmal im Kreis. »Langsamer!«, forderte die Tante und musterte die Schwangere mit kritischem Blick. »Na ja«, brummte sie schließlich, »du stehst wirklich gut im Futter. Viel frische Luft, gutes Essen und … also, von jetzt an verschwindest du sofort, sobald hier jemand auftaucht, entweder in den Schuppen oder ins Schlafzimmer!«

»Das wird schwierig werden«, gab Lysbeth zu bedenken, »der Dezember beginnt, im Schuppen ist es kalt, deine Kranken bleiben manchmal lange.



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